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Ein Hutständer und viele Fragen - Eine Spurensuche - Teil 2

Hier sitze ich also im Hamburger Staatsarchiv und habe ein 230 Jahre altes Büttenpapier in Hand. Ich erkenne gleich den Namen Harm Busch. Diese Prozessakte von 1793 scheint kaum gealtert, mit Tinte beschrieben, eng und mit vielen Schwüngen. Es ist kaum zu lesen für Menschen von heute, die eigentlich nur getippte Buchstaben lesen und kaum noch mit der Hand schreiben.

Mit etwas Übung, aber auch einem Scanner für alte Handschriften, erschließt sich der Prozess. Die Akte spiegelt einen Nachbarschaftsstreit wider, wie er auch heute vorkommen kann. Zwei Schlachter aus Altengamme klagen gegen ihre Kollegen aus Curslack und Neuengamme. Die sollen nämlich ihr Fleisch über die Ortsgrenzen in Altengamme verkauft haben. Was für ein Frevel.

Harm Busch muss zu diesem Prozess schon älter gewesen sein. Denn dort steht, dass seine Tochter, die „Ehefrau Peter Küken“, den Verkauf getätigt habe. Typisch für diese Zeit: Eine Frau wurde über ihren Mann definiert. Ihre echten Namen erfahren wir aus der Akte nicht. Aber dieser Hinweis passt zu unseren Daten. Der Harm Busch, der den Hutständer 1758 in unserer Kirche gestiftet hat, steht also hier 35 Jahre später vor Gericht. Und vor allem ist der Beruf wichtig: Er war Schlachter.

Er hat also definitiv nichts mit der Seefahrt zu tun gehabt. Und er dürfte aus eigener Anschauung wohl nie einen Sklaven oder einen schwarzen Menschen gesehen haben. Auch wenn Hamburg in dieser Zeit Teil des weltweiten Sklavenhandels gewesen ist.

 

 

Matthias Claudius, Quelle: Wikipedia
Matthias Claudius, Quelle: Wikipedia

So besaß Heinrich Carl Schimmelmann aus Wandsbek in den 1770er Jahren große Ländereien in der Karibik. Auf seinen Plantagen sollen bis zu 1000 Sklaven gearbeitet haben, was ihn wohl zum größten Sklavenbesitzer Dänemarks machte, der Stadtteil Wandsbek gehörte damals zu dem Königreich Dänemark. Schimmelmann hatte die Zeitung „Wandsbecker Bothe“ gegründet. Für die arbeitete der Dichter Matthias Claudius (Der Mond ist aufgegangen) als Redakteur. Am 31.08.1773 hat er ein Gedicht als Kritik gegen die Sklaverei geschrieben:

Der Schwarze in der Zuckerplantage

(https://www.projekt-gutenberg.org/claudius/wandsbek/wand110.html)

Weit von meinem Vaterlande

Muß ich hier verschmachten und vergehn,

Ohne Trost, in Müh' und Schande;

Ohhh die weißen Männer!! klug und schön!

Und ich hab' den Männern ohn' Erbarmen

Nichts getan.

Du im Himmel! hilf mir armen

Schwarzen Mann!

Zu den sogenannten höheren Kreisen im Hamburger Umfeld dürfte der Schlachter Harm Busch wohl keine Verbindungen gehabt haben. Trotz aller geschichtlichen Analogien wird unser Hutständer mit dem Männchen und dem Lendenschurz in Neuengamme einen anderen geschichtlichen Hintergrund haben.

Übrigens: Harm Busch ist damals freigesprochen worden. Der Bergedorfer Richter entschied, dass die Altengammer Schlachter nicht nachweisen konnten, dass ihnen ein Schaden durch den Neuengammer Fleischverkauf entstanden ist. Eine Provinzposse.

Meine Suche führt mich weiter auf den Dachboden des Gemeindehauses. Dort lagert das Archiv der Kirchengemeinde Neuengamme. Gibt es hier vielleicht noch eine Spur von Harm Busch oder unserer Figur? Die alten Akten sind von Kirchenarchivaren erschlossen worden. Im Internet, im sogenannten Findbuch, kann ich nach Stichworten suchen und bekomme Nummern. Die stehen dann auf den Pappkartons im Gemeindehaus.

Zunächst öffne ich die Schachtel mit der Nummer 548. Ein dickes Buch von ca. 1800. Der damalige Kantor hat es geführt. Hier stehen Namen, die wir alle auch heute noch kennen: Puttfarcken, Heitmann, Rieck, Peters, Behnken, Kellinghusen, Eggers, Hitscher u.a.m.

Jeder dieser Namen ist verbunden mit Kirchenbänken. Hier sehe ich schwarz auf weiß, was ich sonst nur vom Hörensagen kenne: Die Bänke rechts vom Eingang, die sogenannten Süd-Seite waren für die Frauen. Die Norder-Seite, also links vom Eingang waren für die Männerbänke.

Damals wurden die Sitzplätze verkauft, verpachtet oder auch überschrieben. Ich finde sogar noch den Brief eines Herrn von 1800, der sich darüber beschwert, dass ein anderer auf seinem Sitz gesessen habe. Ich finde auch alte Handregister, die wohl der Küster oder ein anderer Verantwortlicher bei den Gottesdiensten dabei hatte, damit sich ja keiner auf einen falschen Platz setzte. Bei der Sitzordnung kannte man offenbar keinen Spaß. Jeder wollte seinen angestammten Platz, wenn der Sonntagvormittag zum Gottesdienst arbeitsfrei war.

Im Register finde ich den Namen Michael Busch, der hatte 1820 die neunte Bank der Norder-Seite für sich eintragen lassen. Vielleicht war er ein Nachfahre von Harm Busch? Jedenfalls dürften für diese Platzprivilegien finanzielle Mittel geflossen sein. Doch die Bücher führen mich nicht wirklich weiter. Denn die Sitzplätze und die Bänke gibt es heute so nicht mehr. In den 1960er Jahren wurde die alte Inneneinrichtung abgebaut und modernisiert, so dass wir heute eine offene Kirche haben. Damals waren an der Seite Emporen und die Hutständer waren nicht wie heute an den Bankwangen angebracht. Sie waren überall installiert. Die Hutständer wurden zwar gerettet, aber sie wurden ganz anders angeordnet, als in diesen alten Listen vermerkt ist. Es lässt sich also nicht mehr nachvollziehen, ob Michael Busch vielleicht an dem Platz gesessen hat, an dem unser Männchen angebracht gewesen ist.

Also zurück in die Kirche, dem Ausgangspunkt meiner Frage, welche Bedeutung diese Figur haben könnte. Wenn man sich umsieht, wird deutlich: Unsere Vorfahren haben es sich auch hübsch und gemütlich gemacht. Gegen 1700 fing es mit den Hutständern in Neuengamme an. Das passt zu der Zeit. Sie gehört zur frühen Neuzeit, damals kommen aufwändige Hüte in Mode. Und die wollte man wohl nicht immer während des Gottesdienstes in der Hand halten. Nur wohin damit?

In manchen Kirchen findet man heute noch kleine Haken für die Hüte. Die Vierländer wollten vielleicht etwas Besseres. Aus einem simplen Haken wurden Ornamente, Tulpen, das Wahrzeichen der Gärtner schon damals, auf Lübeck verweisende Adler. Politisch gehörte Neuengamme damals zu Lübeck. Und 1758 hat dann jemand das kleine Männchen hergestellt, das Harm Busch in Auftrag gegeben hat.  

Es muss damals fast so etwas wie einen Wettbewerb gegeben haben. Irgendein Schmied im Dorf hat die Hutständer immer aufwändiger gestaltet. Es ist keine große Konzeptkunst wie in den großen Städten. Hier finden wir Volkskunst. Es waren einfache Handwerker, die hier gearbeitet haben. Und sie könnten von Menschen aus Afrika mit dunkler Haut gewusst haben.

Doch was soll diese Figur aussagen? Bedeutet sie überhaupt etwas? Ein nackter Mann mit Lendenschurz und einem komischen Dutt auf dem Kopf?

Ich nehme wieder Kontakt mit Wissenschaftlern auf und diskutiere meine Ergebnisse. Der Kirchengeschichtler Professor Andreas Müller von Universität in Kiel rät mir: Finden Sie vergleichbare Figuren, vielleicht kommen Sie so weiter.

Da es solche Hutständer nur hier in den Vierlanden gibt, ist das keine schwere Aufgabe. Warum es übrigens keine Hutständer in Kirchwerder gibt, ist eine historische Besonderheit. Es gibt sie nur in Neuengamme, Curslack und Altengamme.

V.l.n.r: Curslack, Altengamme, Neuengamme
V.l.n.r: Curslack, Altengamme, Neuengamme

Tatsächlich finde ich in diesen Kirchen zwei weitere solcher Figuren mit Lendenschurz. Eine in Curslack. Sie ist sehr einfach gestaltet, rot angemalt und mit Zepter und Reichsapfel. Und eine aufwändig gestaltete in Altengamme. Das ist mehr als verblüffend. Die beiden weisen mir einen Weg: Sie haben alle etwas von einem König, sie haben eine Krone, angedeutet oder ausgearbeitet.

Drei ganz ähnliche Figuren, nur wenige Kilometer von einander entfernt, das kann kein Zufall sein. Dahinter muss also eine Geschichte stecken, die wir immer noch nicht kennen.

Einen entscheidenden Hinweise finde ich in einem alten Kulturführer von 1903. Der Künstler Oskar Schwindrazheim besucht damals die Vierländer Kirchen und schreibt über diese drei Hutständer: „Die Einwohner sollen ihn als König David bezeichnen“.

Jetzt fügen sich die Informationen zu einem Bild zusammen. Im Alten Testament 2.Sam.6 gibt es die Geschichte von König David, der nackt vor der Bundeslade tanzt. Nur mit einem jüdischen Ephod bekleidet, den Luther mit „leinenen Leibrock“ (Luther 1545) übersetzt. In Curslack gibt es zwar die Erzählung, dass der Mann dort Jesus sei. In Neuengamme aber passt die Interpretation als König David. Er sieht ja so schon aus, als würde er tanzen.

Der kleine Hutständer, ein tanzender König David. Das könnte die Lösung sein, wenn da nicht eine wichtige Frage wäre, die mir die Wissenschaftler:innen stellen, mit denen ich in Kontakt stehe: Würde man wirklich an Jesus einen Hut hängen? Oder an David? Ist das nicht respektlos? Aus deren Sicht kann das alles nicht passen.

Einen letzten interessanten Hinweis gibt mir der ehemalige Neuengammer Gemeindeälteste Hans Maier. Ihm wurde von einem ehemaligen Küster erzählt, die Hutständer seien früher wohl gar keine Hutständer gewesen. Sondern eher Schmuck, wie Blumenschmuck, den man auch im Winter haben wollte. Die Menschen wollten sich ihre Kirche einfach auch schön machen. Die Information sollte sicher noch weiter untersucht werden, macht aber alles plausibel.

Wenn ich auch keinen eindeutigen Beleg finde. Es spricht vieles für dafür, dass die Hutständer gar keine sind. Vor allem, wenn ich alle Informationen betrachte, die meine Reise in unsere Geschichte gebracht hat. Dabei sind mir die Zeit und die Gedanken der Menschen um 1750 lebendig geworden. Es gibt zwar keine direkte Quelle, was die drei Männchen darstellen sollen. Und ihre Bedeutung bleibt vielleicht immer eine Interpretation.

Aber stellen wir uns mal vor: Vielleicht predigten die Pastoren hier früher, dass man auch tanzend Gott loben kann? Oder dass auch reiche und mächtige Könige vor Gottes Gesetz nackt sind? Diese Botschaft ist unseren Vorfahren jedenfalls über Jahrzehnte wichtig. Und diese drei Figuren in den Vierlanden berichten von ihrem Glauben. Und das seit Jahrhunderten.

Sie erinnern an einen fröhlichen König David.

Euer Thorsten Neumann